artifex 02/2024: Reisen
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artifex 02/2024
WUNDERBARER BETON: LE HAVRE – DAS WERK VON STARARCHITEKT AUGUSTE PERRET
(Foto: © Rg_medien)
Die 181 Rue de Paris zeigt das Credo dieses großen Architekten: Bestens funktional, platzsparend und gleichzeitig großzügig, so zeigt sich die Musterwohnung, die Touristen mit kundigen Reiseführern in Le Havre bestaunen können. Auguste Perret hat die Rationalisierung des Raumes perfektioniert. Der 1874 in Ixelles südlich von Brüssel geborene Perret hatte den Auftrag, die während des Zweiten Weltkrieges im Stadt-Zentrum völlig zerstörte Innenstadt von Le Havre neu zu erschaffen. Heute gehören die ganz aus Beton gebauten Wohnhäuser, das Rathaus und die kapitale Kirche St. Joseph zu den Leuchttürmen seiner architektonischen Kunst. Beton in seiner schönsten Ausprägung! Wegen seiner Einzigartigkeit mittlerweile Weltkulturerbe.
Die Bewohner Le Havres, die nach den Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg lange Jahre in Baracken lebten, begleiteten die Modernisierung ihrer einstigen Belle Epoque-Stadt mit Argwohn. Obwohl die neugebauten Wohnungen kaum Wünsche offenließen. Moderne elektrische Geräte wie amerikanische Kühlschränke, Waschmaschinen, intelligente Heizungs- und Lüftungssysteme, Schränke aus Tischlerhand, die als kleine Raumwunder bezeichnet werden dürfen, optimale Licht- und Raumnutzung und vieles mehr perfektionierten das tägliche Leben. Es gab klare Größeneinheiten beim Bau, sodass Wohnungen und Geschäftsräume nach festen Modulen zusammengefügt werden konnten. Das erleichterte den Bau, nicht nur dank Beton und Stahl.
Die Bewohner Le Havres verspotteten die neue Baukultur als stalinistisch. Mit historischem Abstand betrachtet kommt das undankbar daher, da Le Havre etwas Einzigartiges und Schönes zu zeigen hat. Perret hat die Avenue de Foch, die große Prachtstraße der Innenstadt, so angelegt, dass sie vom Meer wie ein Eingangstor wirkt. Die amerikanischen Passagiere, die den bedeutenden Hafen mit den Passagierschiffen ansteuerten, sollten von der Größe und Weitläufigkeit tief beeindruckt sein, so erläutert es Lucas Sauvage, Reiseführer des Tourismusbüros. Er ist einer von denen, die mit ihrer Schlüsselgewalt die Entdeckungen der Perretschen Wohnungen ermöglichen und die Philosophie des belgischen Architekten wunderbar darlegen.
Die St. Joseph Kirche in Le Havre ist zweifellos ein architektonisches Meisterwerk, das weniger als ein Jahrzehnt nach seiner Fertigstellung zum Symbol des wiederaufgebauten Le Havre wurde. Auguste Perret verlieh dem Beton eine bemerkenswerte architektonische Dimension, die die historische Bedeutung dieses Bauwerks unterstreicht. Doch die wahre Magie dieser Kirche offenbart sich erst beim Schritt über die Schwelle, um die perfekte Symbiose von Beton und Licht zu erleben.
Hier wird die kongeniale Zusammenarbeit zwischen dem „Beton-Poeten“ Auguste Perret und der Glasmachermeisterin Marguerite Huré deutlich. Der Laternenturm, der die Kirche krönt, ist an allen acht Seiten vollständig durchbrochen. Die 12.768 mehrfarbigen und mundgeblasenen Glasfenster, die von Marguerite Huré geschaffen wurden, verleihen dem Raum eine raffinierte und neu interpretierte religiöse Mystik. Diese Fenster schaffen eine einzigartige Verbindung zwischen Architektur und Licht. Marguerite Hurés Glasfenster erzählen faszinierende Geschichten und vermitteln eine tiefe religiöse Botschaft. Ihre herausragende Kunstfertigkeit und Kreativität lassen die Farben und das Licht in der Kirche in bezaubernden Schattierungen erstrahlen und erfüllen die Atmosphäre mit einer spirituellen Aura. Die Verschmelzung von Beton und Licht in der St. Joseph Kirche ist ein Meisterwerk, das die Besucher in einen Zustand der Ehrfurcht versetzt.
Der von ihm verwendete Beton zeugt von außergewöhnlicher Baukunst, er unterscheidet sich von herkömmlichem Beton und eröffnet eine Palette von Nuancen, die für rekonstruierte Steinbauten bisher unvorstellbar waren. Diese Innovation von Auguste Perret bestand darin, Beton nicht nur als strukturelles Element zu verwenden, sondern auch als gestalterisches Material. Er experimentierte mit verschiedenen Formen, Texturen und Oberflächenbehandlungen, um Beton ästhetisch ansprechend zu machen. Perret nutzte Beton in einer Weise, die sowohl die strukturellen Vorteile als auch die gestalterischen Möglichkeiten dieses Materials betonte.
Das Innere des Rathauses etwa ist durch eine großzügige Lobby gekennzeichnet, die von einer beeindruckenden Betonkuppel überragt wird. Die Verwendung von natürlichem Licht und die offene Gestaltung schaffen eine einladende Atmosphäre. Es sollte das Gefühl von Offenheit und Bürgernähe vermittelt werden.
Perret ist zu Lebzeiten die besondere Anerkennung für den Aufbau Le Havres nie richtig zuteil geworden. Erst im Jahr 2005 erhob die UNESCO sein Werk zum Weltkulturerbe. Perret verstarb nach einem Krebsleiden am 25. Februar 1954 im Alter von 80 Jahren.
Neben Auguste Perret haben auch andere renommierte Architekten wie Oscar Niemeyer und Jean Nouvel in Le Havre Spuren hinterlassen. Niemeyer, ein brasilianischer Architekt, entwarf das Maison de la Culture, ein markantes Kulturzentrum in der Stadt. Jean Nouvel, ein bekannter zeitgenössischer Architekt, trug mit Projekten wie dem Docks Vauban zur weiteren Modernisierung von Le Havre bei.
FORMEN UND MUSTER IM SCHALUNGSMATERIAL:
Die Schalung ist die Form, in die der Beton gegossen wird. Durch die Verwendung von speziell gestalteten Schalungen können unterschiedliche Texturen und Muster auf der Betonoberfläche erzeugt werden.
OBERFLÄCHENBEHANDLUNGEN:
Perret experimentierte auch mit verschiedenen Oberflächenbehandlungen, die auf den ausgehärteten Beton aufgetragen wurden. Dies könnte das Bürsten, Schleifen oder Polieren der Oberfläche beinhalten, um unterschiedliche Textureffekte zu erzielen.
EINFÜGEN VON MATERIALIEN:
Manchmal fügte Perret dem Beton auch andere Materialien hinzu, um die Textur zu variieren. Dies könnte zum Beispiel die Verwendung von Kies, Steinen oder anderen Elementen sein.
WERDEGANG UND WERK VON AUGUSTE PERRET
Auguste Perret studierte zwischen 1891 und 1901 bei Julien Guadet (1834–1908) an der École des Beaux-Arts in Paris, schloss jedoch seine Ausbildung ohne Diplom ab. Bereits ab 1894 war Perret parallel zum Studium in der elterlichen Baufirma tätig. Ab 1900 begann er, Bauten in Eisenbeton zu realisieren.
Zwischen 1903 und 1904 leitete er die Errichtung eines Wohnhauses in der 25 bis, Rue Franklin in Paris. In diesem Gebäude hatte der Architekt auch eine Wohnung im Dachgeschoss. 1905 gründete er gemeinsam mit seinen Brüdern Gustave und Claude ein Bauunternehmen. Von 1906 bis 1907 entstand die Garage in der Rue Ponthieu, ein Bauwerk, das heute nicht mehr existiert. In den Jahren 1911 bis 1913 realisierte Perret das Théâtre des Champs-Élysées, ein modernes Gebäude aus Stahlbeton mit einer weiß marmornen Fassade. In Le Raincy nördlich von Paris erbaute er zwischen 1922 und 1923 die Kirche NotreDame du Raincy, einen schlichten Hallenbau aus Sichtbeton, der wenige standardisierte Bauelemente nutzte. Die nicht-tragenden Fassaden wurden vollständig mit farbigen, verglasten Betonformsteinen gestaltet, entworfen von Marguerite Huré (1895–1967). Von 1931 bis 1932 leitete er die Realisierung des neoklassizistischen Gebäudes des Marinebauamtes in Paris. 1932 bezog er die oberen Stockwerke des von ihm entworfenen Wohngebäudes 51–55 Rue Raynouard, in dem sich auch sein Atelier befand und wo er bis zu seinem Lebensende wohnte. Eine Gedenktafel am Gebäude erinnert heute an ihn.
Ab 1940 unterrichtete Perret an der École des Beaux-Arts. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs im Jahr 1945 war Perret bis 1954 federführender Stadtplaner für den Wiederaufbau von Le Havre. In diesem Zeitraum entstanden bemerkenswerte Bauwerke wie die leuchtturmartige Gedächtniskirche St. Joseph sowie der Tour Perret in Amiens, der erste Wolkenkratzer Frankreichs. Mit einem Team von 60 Architekten entwarf er breite Boulevards und lange Straßenachsen, die von Häusern aus getöntem Beton mit klarer, schlichter Ornamentik und Kolonnaden flankiert wurden. Das Baumaterial wurde aus Sand und Ziegelschutt gewonnen, der nach Farben getrennt gemahlen wurde. Der auffällige, 107 Meter hohe achteckige Glockenturm der Kirche Saint-Joseph du Havre aus Beton erinnert an einen Leuchtturm. Im Inneren der Kirche erhellen 12.768 bunte Glasfenster den Raum. Im Jahr 2005 würdigte die UNESCO Perrets städtebaulichen Neuanfang für 60.000 Menschen als Weltkulturerbe.
Im Jahr 1943 wurde Perret als Nachfolger von Paul Bigot in die Académie des Beaux-Arts gewählt. 1948 erhielt er die Royal Gold Medal des Royal Institute of British Architects und 1952 die AIA Gold Medal.
Auguste Perret zählt neben Tony Garnier zu den Pionieren der modernen Architektur in Frankreich und setzte bedeutende Impulse für die Entwicklung des Neuen Bauens. Der Preis der Union Internationale des Architectes für technologische Innovationen in der Architektur trägt seinen Namen und wird als Auguste-Perret-Preis vergeben.
TIPPS
Restaurants:
Restaurant Le Bouchon Normand
77 rue Louis Brindeau
(+ 33 9 52 15 23 73)
www.bouchon-normand.fr
Brasserie Eugénie, 9 sente Alphonse Karr,
chemin de la mer - Sainte-Adresse -
(+33 2 35 49 05 79)
www.eugenie-brasserie.fr
Les Enfants Sages 20 rue Gustave Lennier
(+33 2 35 46 44 08).
www.restaurant-lesenfantssages.com
Hotel:
Übernachtung im Vent d‘Ouest
4 rue de Caligny
(+ 33 2 35 42 50 69)
www.ventdouest.fr
Entdecken:
Fischmarkt im Viertel Saint-François
Hafenrundfahrt: Port de Plaisance du Havre, 125 bd
Clemenceau, Digue Charles Olsen (+33 6 16 80 24 10).
Anmeldung 15 Min. vor der Abfahrt erforderlich.
Bibliothek Niemeyer. Eine der schönsten Bibliotheken
Frankreichs, die seit Ende 2015 für die Öffentlichkeit zugänglich ist.
Hängende Gärten von Le Havre in einem ehemaligen Fort aus dem 19. Jahrhundert
www.lehavre-etretat-tourisme.com/de/entdecken/die-highlights/entdecken-sie-le-havre/die-hangenden-garten/
Anfahrt:
Aus Frankfurt mit dem Zug ICE 7 Std. und 14 Min., mit dem Auto 9 Std.
Bildergalerie
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