Vorlesen:

JUBILÄUM

VESPA: DIE LEICHTIGKEIT DES SEINS

IM JAHR 1946 VERLÄSST ERSTMALS EIN ROLLER DAS ITALIENISCHE WERK IN PONTEDERA. WIE KEIN ANDERES ZWEIRAD VERMITTELT DIE WESPE EIN EINZIGARTIGES LEBENSGEFÜHL UND SORGT FÜR UNTERHALTUNG.

TEXT: BRIGITTE KLEFISCH/JÜRGEN ULBRICH

Petticoat, Rock ’n’ Roll und Vespa. Nach dem Krieg entledigte sich die Jugend mit Beginn der Fünfziger der Schwere der Kriegsjahre. In ganz Europa macht sich ein Lebensgefühl der Heiterkeit und Gelassenheit breit. Es begann die Zeit des Aufschwungs. In den amerikanischen Filmen avancieren James Dean und Marlon Brando zu Leitfiguren einer neuen Generation. Tanzlokale entstehen. Erste Partys werden gefeiert. Die Reiselust ist geweckt. Deutsche zog es zu Tausenden nach Bella Italia. „Als die Deutschen wieder anfingen zu reisen, gehörte die Vespa (italienisch: Wespe) zum Urlaubsfeeling einfach dazu“, blickt Ansgar Schauerte von Piaggio Deutschland auf die Anfänge des Kultgefährts zurück.

Die beginnen im Jahr 1946 im italienischen Pontedera. 1884 gründete Rinaldo Piaggio das Unternehmen zunächst als Schreinerei. In den darauffolgenden Jahren spezialisierte sich das Unternehmen auf den Bau von Luxusschiffen. Während des Krieges zählte der Betrieb zu den größten Flugzeugherstellern. Nach dem Kriegsende waren es Armando und Enrico Piaggio, die das Unternehmen in eine friedlichere Zukunft führen sollten. Vor allem ist es der Entschlossenheit von Enrico zu verdanken, dass heute, 75 Jahre später, noch immer die farbenfrohen, breiten Motorräder über die Straßen Europas rollen.

VOM FLUGZEUG ZUM ROLLER
Auf der Suche nach einem kostengünstigen Fahrzeug für die Massen beauftragte Enrico den Luftfahrtdesigner Corradino D’Ascanio mit der Entwicklung eines Rollers. Der Prototyp MP5 verfügte über 98 cm³ Hubraum und brachte es immerhin auf 60 km/h. Doch Enrico fand keinen Gefallen an dem Fahrzeug mit dem Spitznamen „Paperino“, dem italienischen Namen für Donald Duck. Er bat den Ingenieur, einen anderen Roller zu entwickeln. Der nutzte sein Wissen aus dem Flugzeugbau. Mit einer Kurzschwinge vorn und der Triebsatzschwinge hinten prägte er das Bild aller Vespa-Generationen bis zum heutigen Tag. Am 23. April 1946 meldete Piaggio die Vespa mit der schmalen Taille beim Zentralpatentamt an.

Foto: © Unsplash.com @Andrei MikeFoto: © Unsplash.com @Andrei Mike

In dem „Herzstück der Vespa“ sieht Ansgar Schauerte auch den Erfolg des Zweiradrollers. „Die Vespa wurde so erfolgreich, weil sie so war, wie sie heute noch ist: sympathisch, gepaart mit einer unglaublichen Zweckmäßigkeit.“ Zwei Versionen der Vespa 98cc gingen in den Verkauf. Für 55.000 Lira gab es eine normale Version. Die „Luxus“-Version für 66.000 Lira bot ihrem stolzen Besitzer einen Tacho, Seitlichständer und stylische White-Trim-Reifen. War es für die einen die Umsetzung einer „genialen Idee“, war die Euphorie über die Absatzmöglichkeiten eher gedämpft. Doch das sollte sich schnell ändern. Nur drei Jahre später verließen über 170.0000 Fahrzeuge die Werke. Die Times schrieb dazu: „Ein komplett italienisches Produkt, wie wir es seit dem römischen Wagen nicht mehr gesehen haben.“

Eine Vespa zu fahren war gleichbedeutend mit Freiheit, agiler Raumnutzung bis hin zu sozialen Bindungen. Der neue Roller wurde zum Symbol eines Lebensstils. Im Kino, in der Literatur und in der Werbung gehörte die Vespa zum Leitbild einer sich wandelnden Gesellschaft. Bewusst wird bis heute das Kerndesign gepflegt ohne dabei technische Entwicklungen außer Acht zu lassen. Ansgar Schauerte fasst die Sogwirkung der Vespa so zusammen: „Die Vespa verbindet Faszination, Leidenschaft und Design. Bis heute vermittelt sie den Charme ‚Made in Italy‘. Wenn Sie gerne kommunizieren, kaufen Sie sich eine Vespa. Damit kommen Sie immer mit anderen Menschen ins Gespräch.“

„DIE VESPA WURDE SO ERFOLGREICH, WEIL SIE SO WAR, WIE SIE HEUTE NOCH IST: SYMPATHISCH, GEPAART MIT EINER UNGLAUBLICHEN ZWECKMÄSSIGKEIT.


artifex 03/2021: Motorrad - Seite 5