artifex 02/2024: Reisen
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artifex 02/2024
LAGRASSE: DIE HEIMAT DER ESSIGMACHER
(Foto: © Rg_medien)
Der alte Mann wankt ein wenig durch die Gassen. „Der Regen, endlich der Regen“, ruft er aufgeregt. „Haben Sie keinen Schirm?“ Über Lagrasse geht ein Wolkenbruch nieder, die Kopfsteinpflaster der 500-Seelen-Gemeinde verfärben sich und werden rutschig.
An der Hauptstraße liegt wenige Meter neben der Hostellerie des Corbiéres, einem gemütlichen Hotel, der Wirkungsbereich von Cyril Codina und die Lagerfläche für jede Menge Fässer. Oben auf der Essigfabrik sind Holzfässer platziert, die ganz bewusst Regen und Luft ausgesetzt sind. Der Regen lässt nach und Jacques, der multilinguale Flame aus Antwerpen, führt uns durch die Verkaufsräume und die Lagerstätten. Überall Essig, aufbereitet von einem Winzer, der vor über einem Jahrzehnt ganz neue Wege gehen wollte. Cyril Codina heißt das gleichnamige Geschäft aus der Audois-Region. Vor ungefähr 15 Jahren begann er seine handwerkliche Essigherstellung. Seine Weinberge liegen in der renommierten Terroir-Gemeinde Ferrals-les-Corbières innerhalb der Corbières-Appellation. Obwohl die Wein- und Essigproduktion zunächst in Ferrals stattfand, entschied sich Cyril dafür, sich in Lagrasse niederzulassen. Kein Wunder, der malerisch touristische Ort ist als eines der „schönsten Dörfer Frankreichs“ bekannt.
Zwischen 2006 und 2009 entwickelte Cyril das Weintourismusprojekt „Musée 1900“ in Lagrasse. Dieses Projekt widmete sich verschiedenen Aspekten des Alltagslebens in Lagrasse und dem Weinbau während der Belle Époque. Das Projekt ist zwar nach fast zehn Jahren geschlossen, doch noch heute erinnert das Restaurant 1900 mit dem ein oder anderen Exponat an die Zeit als Museum. „Im Mai 2017 wurde dann eine Boutique in der Mitte der Promenade von Lagrasse eröffnet“, erzählt Jacques: „In bester Lage!“ Dort können Besucher die gesamte Produktpalette von Cyril verkosten und kaufen, einschließlich einiger Produkte von regionalen Erzeugern. Schließlich wurde im Jahr 2021 der „Cour des Saveurs“ ins Leben gerufen. Dieser umfasst ein Restaurant, zwei Geschäfte lokaler Produzenten und die Vinaigrerie, die Produktionsstätte für all die köstlichen Kreationen von Cyril, die den Besuchern zur Besichtigung angeboten werden.
Die Herstellung von Essig ist zu einer Leidenschaft von Cyril geworden, und im Laufe der Jahre ist seine Palette auf über 40 verschiedene Produkte angewachsen. „Wir erzählen die Vergangenheit, er richtet sich nur auf die Zukunft aus, er brennt für seine neuen Kreationen.“ Jeder Essig zeichnet sich durch seine eigene Säure, Milde, Süße, Fruchtigkeit oder Würze aus. Gemeinsam ist allen Produkten die Abwesenheit chemischer Zusätze wie Konservierungsstoffe, Farbstoffe, Verdickungsmittel oder Aromen. Cyril arbeitet eng mit lokalen und regionalen Produzenten zusammen, die ihm einen Großteil der Zutaten liefern, um seine Essige, Balsamico- und Olivenöle zu aromatisieren. Zudem hat er Kooperationen mit renommierten Köchen, einschließlich Sterneköchen, geschlossen, um immer wieder überraschende und einzigartige Geschmackserlebnisse zu kreieren.
Eine von Cyril entwickelte Aromatisierungstechnik ermöglicht es ihm, Essige mit moderatem Säuregehalt und dennoch intensivem Geschmack anzubieten. Bei der ersten Technik, bekannt als „berührungslose“ Methode, werden kleine Beutel in den Hals der Glas-Joanen gehängt, die auf den Dächern der Essigfabrik stehen. Über 120 Korbflaschen nehmen so die Sonne auf und aromatisieren den Essig durch Verdunstung und Kondensation. Das Ergebnis ist eine Geschmacksexplosion im Mund, wie sie beispielsweise beim unglaublichen Timut-Essig mit nepalesischem Pfeffer zu erleben ist.
„Für unsere zweite Methode zur Aromatisierung von Weinessig werden verschiedene Zutaten wie Honig, Piment d‘ Espelette, Algen, Tomaten und Gewürze direkt in die Essig- oder Weinfässer eingearbeitet“, sagt Jacques. Nachdem die Zutaten hinzugefügt wurden, erfolgt behutsames „Schlagen“ des Fasses, um eine gleichmäßige Mischung zu erzeugen. Anschließend beginnt der langsame Prozess der Essigsäuregärung. Es dauert fast anderthalb Jahre, bis das Fass vollständig mit aromatisiertem Essig gefüllt ist. „Ein herausragendes Beispiel für diese Technik ist unser Honigessig“, sagt Jacques.
Nicht zu vergessen: die Balsamico-Sorten. Sie entstehen aus Traubenmost, der in einem Kessel gekocht und dann in Fässern gelagert wird, die das ganze Jahr über der prallen Sonne ausgesetzt sind. Sobald es wärmer wird, beginnt die Aceto-BalsamicoGärung, die einige Wochen dauert. Nach fünf Zyklen, also nach fünf Jahren, ist der Balsamico fertig. „Allerdings entscheiden wir uns dafür, ihn weiter reifen zu lassen, um ihm kräftigere Aromen und eine sanftere Textur zu verleihen. Daher ist unser naturbelassener Balsamico 10 Jahre alt.“ Bei den aromatisierten Balsamico-Sorten werden Früchte wie Himbeeren, Brombeeren, Aprikosen und Feigen sowie Pflanzen wie Basilikum und Bärlauch und andere Zutaten wie Kaffee, schwarze Trüffel und Fischgräten etwa ein Jahr lang direkt in den Fässern mazeriert. Das bedeutet, dass all die Balsamico-Sorten mindestens 6 Jahre alt sind, bevor sie in den Regalen zum Verkauf stehen.
Die Führung ist beendet, die nächste Gruppe steht bereit, um den Ausführungen der Crew von Cyril Codina zu folgen. Anmeldung über die Website. Im Übrigen verschickt Cyril Codina weltweit, beteiligt sich grundsätzlich immer an den Versandkosten.
Mehr Infos sind auf der Website des Tourismusbüros zu finden:
tourisme-corbieres-minervois.com/de/degustation/vinaigrerie-cyril-codina/
INFO
ÜBERNACHTUNG UND RESTAURANTS:
Hostellerie des Corbiéres – Hotel mit guter Halb-Pension und schönen geräumigen Zimmern.
hostellerie-des-corbieres.com
Ein Gaumenschmaus ist das Essen im Le Bastion, sterneverdächtige Küche:
restaurant-bastion-lagrasse.fr
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