artifex 03/2021: Motorrad
Vorlesen:
CUSTOM-BIKES: „ANDERS SEIN ALS DIE ANDEREN“
(Foto: © Jürgen Ulbrich)
ALS KNIRPS FLITZTE DIRK OEHLERKING MIT EINEM „FLIEGENDEN SCHALBRETT“ ÜBER FELDWEGE. HEUTE FERTIGT ER MIT KREATIVER HANDWERKSKUNST DESIGNVISIONEN AUF ZWEI RÄDERN.
TEXT: JÜRGEN ULBRICH
Das Wohnzimmer verströmt Vintage-Atmosphäre pur, die Leidenschaft des Bewohners für Zweiräder zeigt der Street Tracker Kingston Royal AJS 500, der hier seinen Ehrenplatz gefunden hat. „Das war mein erstes Custom Bike“, sagt Dirk Oehlerking (53), der mit seiner Gelsenkirchener Firma „Kingston Custom“ seit 2012 für Furore in der Szene sorgt. So etwa mit dem Lifestyle-Bobber BMW R75/6, der den Werkzeugmacher und Zweiradmechaniker-Meister auch international bekannt machte.
Bis dahin war es ein langer Weg für Dirk, der in dem 800-Seelendorf Abbensen nördlich von Hannover als LKW-Fahrer-Spross aufwuchs. „Wir lebten nahe einer Kiesgrube, mein Vater fuhr einen Frontlenker, mit dem ich als Junge oft in der Grube rumgekurvt bin“, erzählt der Motorrad-Zauberer, den die Zuschauer 2016 für seinen 126 PS starken Turbo Cafe Racer BMW R100RS bei der Sultans-of-Sprint-Challenge feierten. Und Dirks BMW-Design-Vision „The White Phantom“ im Art-déco-Stil wurde auf der Kölner Intermot in der Sektion Cafe Racer prämiert.
„Eine NSU Sperrmüll-Quickly war 1972 mein erstes Moped, ohne Reifendruck, der Motor war fest“, erinnert er sich. Der Vater machte sie mit reichlich Caramba wieder flott. „Dann fuhr er mit ihr weg, ich dachte, der kommt nie wieder. Als er endlich zurückkam, sagte er nur: So, jetzt du!“ Der anschließende Quickly-Ritt über einsame Feldwege war die Initialzündung für die Bike-Leidenschaft, die Dirk bis heute lebt.
„Ich habe schon damals experimentiert, etwa mit einem Bau-Schalbrett, an das ich Motor, Antrieb, Lenkung und Räder montiert habe. Dann bin ich mit 70 Sachen zwischen den Feldern rumgerast. Als mich ein Traktorfahrer übersah, wich ich aus und flog ins Feld. Seitdem hieß der Holzrenner das ,fliegende Schalbrett‘“, feixt Dirk über den zum Glück folgenlosen Abflug, denn Polizei gab es auf dem Land seinerzeit nicht.
Dafür jede Menge Enduro-Fahrer, die sich in der Kiesgrube trafen, um ihre Fahrkünste zu verfeinern. Klein-Dirk war auf Anhieb fasziniert, „die kurvten da ständig auf dem Hinterrad rum“, beschreibt er die Anfänge der eigenen Moto-Cross-Karriere. Denn in der Kiesgrube fand Dirk einen Mentor, der ihn 1976 ohne Wissen der Eltern zu einem Cross-Rennen nach Braunschweig mitnahm. Als er gefragt wurde, ob er in der 50er-Klasse starten wolle, stieg er in Gummistiefeln und Latzhose auf eine Yamaha TY 50 und gewann sein erstes Rennen auf Anhieb.
Heute zeugen über 300 Auszeichnungen von den Erfolgen aus seiner aktiven Moto-Cross-Zeit. Darunter auch der Pokal für die Deutsche Enduro-Meisterschaft 1985, der ihm die Teilnahme an der Enduro-WM in Spanien sicherte.
Dirks Wirken als Werkzeugmacher und Dreher in einem Hannoveraner Betrieb endete, als er seine große Liebe kennenlernte, die aus Gelsenkirchen stammt. 1990 zog er zu ihr ins Ruhrgebiet, 1998 gründete er seine Firma „Oehlerking Motorradtechnik“ in Bochum-Wattenscheid. „Das war sehr schwer damals, aber auch schön, der Laden lief sehr gut“, erzählt Dirk, „nach zwei Jahren wurde ich Yamaha-Händler.“ Doch nach vielen Jahren Inspektionen und Ölwechseln fragte er sich: „War es das jetzt, soll es ewig so weitergehen?“ Nein, er suchte neue Herausforderungen.
Sein Plan: die Konzeption und Realisierung eigener Motorräder, basierend auf Old-School-Bikes der Siebziger. An Ideen, Individualität, Kreativität und handwerklichen Fähigkeiten mangelte es nicht. Schon im Dezember 2010 reiste er mit zwei eigens gestalteten Yamaha SR 500 zur Custombike Show nach Bad Salzuflen, wo diese bestaunt wurden. Ihm wurde klar, „das will ich machen, nichts anderes mehr!“
2011 löste er alle Verträge auf, verkaufte Werkstatt samt Grundstück und schlüpfte zunächst in der Halle eines Kumpels unter, um Ideen zu entwickeln. Innerhalb eines Jahres baute er fünf Bikes mit viel Liebe zum Detail, 2012 gründete er „Kingston Custom“. Sein Markenzeichen: eine an prägnanten Stellen verbaute Zündkerze.
Bald gingen die Maschinen weg wie warme Semmeln, die Nachfrage ist inzwischen so groß, dass die Wartezeit für Kingston-Custom-Bikes ein Jahr beträgt. Mögliche Kunden empfängt Dirk aber nicht in seiner Vintage-Schmiede, sondern auch schon einmal im heimischen Wohnzimmer. Dort bestimmt der Interessent die Basis, etwa Bobber, Scrambler oder Cafe Racer, der Meister behält sich Design, Formen und Farbe vor, denn „jeder Customer hat seine persönliche Handschrift“, merkt er an. Seine Kreationen, die die Fahrer entschleunigen sollen, genießen übrigens seit Oktober 2016 Designschutz beim Patentamt – Vorsorge gegen „unverschämte Kopien“.
So wird Dirk Oehlerking weiter für Aufsehen sorgen, zur Zeit etwa beschäftigt er sich verstärkt mit Turbo-Aufladung, getreu seinem Credo: „Anders sein als die anderen!“
Info: KINGSTON-CUSTOM.DE
artifex 03/2021: Motorrad - Seite 18