artifex 02/2024: Reisen
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artifex 02/2024
ALASKA: INSIDE-PASSAGE HOCH NACH NORDEN
(Foto: © Michael Soltys)
TEXT: MICHAEL SOLTYS
Kreuzfahrt? Nein danke. Immer wenn mich meine Freundin anlässlich unserer Urlaubsdiskussionen überreden wollte, auf ein Schiff zu steigen, war meine Antwort eindeutig. Nur eine Ausnahme wollte ich als großer Alaska-Fan gelten lassen: die Inside Passage, die Schiffspassage zwischen dem nordamerikanischen Festland entlang der Küste von Kanada und Alaska und den vorgelagerten Inseln hoch nach Norden.
Und jetzt stehe ich hier am Hafen von Vancouver am Pazifik und schaue die 14 Etagen unseres Schiffes hinauf. Obwohl, es sind keine Etagen, es sind Decks, wie man mich, den Neuling, später aufklärt. So aus der Nähe wirkt die Koningsdam, wie der Name der schwimmenden Kleinstadt lautet, wie eine Ansammlung dicht an dicht gebauter winziger Wohnungen. Man muss schon auf die Terrasse eines nahen Hotels steigen, um die Größe des Schiffs zu erfassen, auf dem in den kommenden acht Tagen 2650 Gäste und 1036 Angestellte, Zimmermädchen, Matrosen, Mechaniker, Kellner und Köche leben. Hinter der Koningsdam liegt die Volendam, beide gehören zur Holland America Line, dahinter ein weiterer Kreuzfahrt-Riese.
Um die 10.000 Menschen sind es, die an diesem Vormittag ihre Reise auf den drei Schiffen antreten wollen, sie werden alle durch eine riesenhafte Halle geschleust. Schon Wochen vorher haben wir uns auf der App von Holland America Line registriert und haben unsere Bordkarten heruntergeladen. Doch jeder Einzelne wird noch einmal persönlich kontrolliert und fotografiert, um seine Identität festzustellen. Dann wartet schon die nächste Schlange. An deren Ende stellt ein Beamter des US-Grenzschutzes seine Fragen und kontrolliert die Pässe. Das erleichtert uns später den Besuch der Städte in Alaska.
Partystimmung herrscht, als die Koningsdam ihre Reise antritt. Vielen Gästen fällt es leicht, sich auf dem Ungetüm von Schiff zu orientieren. Andere wie ich treten einen Irrgang an, durch die Restaurants und Bars, entlang der endlosen Gänge mit den Zimmern, Verzeihung, mit den Kabinen. Sie durchqueren die Clubs, in denen am Abend die Bands spielen werden, passieren die Spielautomaten im Casino, stellen sich in die Schlange an der Rezeption, wenn sie Fragen haben. Nehmen einen ersten Drink im überfüllten „Crow’s Nest“, der Bar im Bug des Schiffes.
Dann endlich ist Ruhe, das Schiff hat die Bucht von Vancouver verlassen. Die Fenster des Zimmers – Verzeihung, der Kabine – reichen bis zum Boden, der Blick ist frei auf Vancouver Island. Kaum zu unterscheiden sind die tiefen Pazifik-Wolken von den schneebedeckten Hügelketten. Das Schiff gleitet lautlos, der Wellengang in dieser Schärenwelt geht gegen null. Die Folge ist ein tiefer Schlaf, der mit dem Sonnenaufgang endet. Der Himmel hat sich aufgeklart, die flach einfallenden Strahlen heben die Konturen der Inseln und Felsen in der engen Schiffspassage klar hervor, die Szenerie gleicht einer Federzeichnung vor blass-blauem Hintergrund. Ein Leuchtturm und ein Gebäude ähnlich einer Kapelle strahlen in der Sonne hell vor dem Wald, der noch im Schatten liegt.
Anderthalb Tage hält dieser Zustand an, „Scenic Cruising“ nennt sich das Programm. Zeit, die sich die Menschen an Bord mit Bingo vertreiben, oder mit Quizspielen, mit Padel-Tennis auf Deck 12, mit einem Drink an einer der vielen Bars. Oder mit Shows. Allein 800 Plätze bietet das Theater an Bord an, auf Deck 2 und 3 wechseln sich die Musikbands ab. Viele Menschen zieht es jedoch ins Freie. Mit Fernglas und Kamera machen sie sich auf die Suche nach der Tierwelt Alaskas, nach Walen, Orkas oder wenigstens nach Seales, den Seehunden. Zu ihnen geselle ich mich.
An drei Stationen macht das Schiff auf seiner achttägigen Reise fest: Juneau, Skagway und Ketchikan. Juneau, die Hauptstadt des US-Bundesstaates, ist eine unscheinbare Kleinstadt. In kurzer Zeit werden knapp 3000 Menschen allein von der Koningsdam von Bord geschleust. Längst haben weitere Schiffe festgemacht. Ein Strom von Menschen ergießt sich in die Souvenirläden und Juwelier-Geschäfte entlang der Mole. Vor dem Kabinenlift auf dem Hügel über der Stadt bildet sich in kürzester Zeit eine Schlange, es dauert Stunden, bis die Fahrt zum Aussichtspunkt über der Stadt angetreten werden kann. Unten am Pier demonstriert eine kleine Gruppe von Menschen gegen die Auswüchse des Kreuzfahrt-Tourismus.
Skagway war Ende des 19. Jahrhunderts eine zentrale Anlaufstation für die Menschen, die dem Goldrausch erlegen waren. Heute ist es eine Art historisches Dorf, der nördlichste Punkt der Reise. Viele Gebäude wie der Red Onion Saloon oder die Verwaltung der Eisenbahngesellschaft sind im historischen Stil restauriert worden. Zu den Zeiten des Goldrausches, Ende des 19. Jahrhunderts, sollen hier 10.000 Menschen gelebt haben. Die aktuellen Zahlen schwanken. In der Saison zählt der Ort rund 2000 Menschen. Etwa die Hälfte verlässt den Ort im September, wenn die Schiffe ausbleiben. „Ohne die Touristen ist der Ort leer“, sagt einer der zahllosen Goldhändler: „Die Einheimischen kaufen keine Diamanten und kein Gold.“
Mit Begeisterung werden an den Abenden die Eindrücke von den Ausflügen des Tages ausgetauscht. Von Skagway aus ist eine reisefreudige Schwäbin mit dem Bus zum White-Pass gefahren, den Pass in den Bergen, den viele Goldsucher schwer beladen zu Fuß erreichen mussten. Ein Ehepaar aus Schweden, das seinen 40. Hochzeitstag feiert, hat sich mit mir in einen Hubschrauber gezwängt, um die Gletscher oberhalb von Juneau zu bewundern. Unsere Begeisterung über die gewaltigen Ausmaße des Eisstroms teilen wir mit einem Gast aus Belgien, der die Gletscher aus einem Kleinflugzeug heraus bestaunt hat. Bei einem Ausflug in Juneau habe ich Wale gesehen, wenn sie aus der Ferne auch eher großen Baumstämmen glichen. Direkt an der Straße an einer Bucht bei Ketchikan, keine 20 Meter von mir, hat ein Bär in aller Seelenruhe gegrast, erzähle ich. Ob ein Schwarzbär oder ein Braunbär, darüber haben sich die Autofahrer, die deshalb angehalten haben, nicht einigen können. Wenn es um die Preise für die Ausflüge geht, verdrehen alle die Augen, sie reißen Löcher in die Urlaubskasse. „Aber wir sind nur ein Mal im Leben hier“, heißt es dann.
Am Morgen des fünften Tages wird es auf dem Schiff schon zu früher Stunde unruhig. Die Koningsdam ist in den Nationalpark Glacier Bay eingefahren, eine verzweigte Bucht, in die mehrere Gletscher kalben. Die Rundfahrt durch die engen Fjorde ist der unbestrittene Höhepunkt der Reise. Im Crow’s Nest und auf der windigen offenen Bugnase im Vorderschiff drängen sich die Neugierigen. Hier erläutert Ranger Adam Majewski in beige-grüner Uniform, mit Krawatte und breitkrempigem Hut, die Geologie der Bucht und ihre Tierwelt. Schon vor sechs Uhr morgens haben ihn seine Kollegen mit einem Boot vom Besucherzentrum am Festland aus an Bord gebracht. Immer wieder wird sein Vortrag unterbrochen von „Aaahs“ und „Ooohs“. Mal haben Gäste an Steuerbord den Blas eines Wals entdeckt. Mal werden zwei winzige Punkte am Ufer als Elche identifiziert. Die schneebedeckten Berge, die bis auf etwa 1000 Metern Höhe gehen, rücken näher und näher.
„Es ist ein Tag, wie er für Südalaska ganz ungewöhnlich ist“, sagt Ranger Majewski. Die Sonne scheint, die leichten Wolken spiegeln sich im beinahe glatten Wasser des Fjords. Und mit ihnen die Strukturen des Eises, das die Gletscher ins Wasser schieben. Langsam, ganz langsam, dreht die Koningsdam in einen Seitenarm, immer ruhiger wird es an Bord angesichts der Majestät und riesenhaften Strukturen des bläulich schimmernden Eises. „Selbst die Stille der Glacier Bay ist beeindruckend“, sagt Ranger Adam. Nach und nach verlangsamt das Schiff seine Fahrt und dreht sich quer zu der blauen Wand aus Eis. Und dann geschieht das, worauf alle gewartet haben: der Gletscher kalbt. Eine Säule aus Eis rauscht in die Tiefe. Ja, sage ich mir, diese Eindrücke sind der Grund, warum du diese Kreuzfahrt gemacht hast.
INFO
Die Reederei Holland America Line feierte 2023 ihren 150. Geburtstag. Sie bezeichnet sich selbst als Alaska-Spezialist unter den Kreuzfahrtreedereien. In der Saison 2023 hat Holland America Line sieben Schiffe in Alaska stationiert. Die hier beschriebene Reise entlang der Inside Passage mit der Koningsdam kostet mit Abfahrt im Mai 2024 ab 1264 Euro in der Innenkabine, in einer Veranda-Kabine kostet sie 1864 Euro. Die Ausflüge müssen extra bezahlt werden. Whale Watching in Juneau inklusive Besuch des Mendenhall-Gletschers kostet 240 US-Dollar. Für einen Flug über die Gletscher ab Juneau werden 310 US-Dollar fällig, Flüge mit dem Helikopter gibt es ab 500 US-Dollar.
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